Interview
Johannes Finkelstein
Schicksale, die sich nicht wiederholen dürfen
Für unsere Recherchen für die Stiftung haben wir Johannes Finkelstein, Sohn von Berthold Finkelstein und Enkel von Dr. Hans Finkelstein, um Erlaubnis gebeten. Johannes Finkelstein ist Repräsentant der Familie und Co-Vorsitzender des Stiftungsbeirats. Im März 2023 besuchte er die Bayer-Zentrale in Leverkusen für ein Interview.
Trotz unseres Wissens über den Zweiten Weltkrieg übersehen wir oft die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Zahlreiche Berichte von Opfern sind bekannt, doch es gibt noch viele unerzählte Geschichten. In diesem Gespräch wurde einmal mehr deutlich, wie das Schicksal von Dr. Hans und Berthold Finkelstein bis in die Gegenwart hineinwirkt.
Johannes Finkelstein © Marcus Mueller-Saran
Bayer hat die Hans und Berthold Finkelstein Stiftung ins Leben gerufen, um unabhängige Forschungsprojekte und die Erinnerungskultur im Unternehmen zu fördern. Gleichzeitig soll sie Ihre Familie würdigen. Sie selbst kennen Ihren Großvater Hans Finkelstein nur durch Erzählungen. Wie wurde ihm in der Familie gedacht?
Das Schicksal meines Großvaters wurde lange Jahre sehr wenig thematisiert. Für die Familie war das aufgrund der traumatischen Erfahrungen ein Tabuthema. Gerade der Generation meiner Großmutter war es zu eigen, nicht über die Geschehnisse aus der Zeit des Dritten Reiches zu sprechen. Nicht, weil man es nicht wollte, sondern weil man es nicht konnte.
Hat sich das mit der Zeit geändert? Haben Sie zum Beispiel irgendwann angefangen Fragen zu stellen?
Es gab eine große Kontinuität, nicht über den Tod meines Großvaters zu sprechen. Alle in meiner Familie haben empfunden, wie der Schmerz und das Trauma fortwirkten. Als mein Großvater sich 1938 das Leben nahm, war mein Vater 13 Jahre alt. Er war noch ein Kind. Auch er hat sehr wenig über das Verhältnis zu seinem Vater gesprochen. Erst lange nach dem frühen Tod meines Vaters habe ich mit meiner Tante angefangen über die Vergangenheit zu reden.
Was für ein Mensch war Hans Finkelstein?
Ich habe ihn ja persönlich nicht kennengelernt. Wenn man seine Familienchroniken liest, dann erlebt man ihn als einen lebensbejahenden und sehr familienorientierten Menschen. Er hat, und das ist sicher selten für seine Zeit, meiner Großmutter und seinen Kindern viel Freiraum gelassen. Man kann ihn auch als einen überzeugten Deutschen, der seinem Land sehr verbunden war, bezeichnen. Er hatte zum Beispiel die Möglichkeit, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, aber das kam für ihn nicht in Frage. Er hat die Entwicklung in Deutschland in der letztendlichen Konsequenz zunächst nicht kommen sehen und konnte nicht glauben, welches Schicksal ihm widerfährt. Sie müssen wissen, dass mein Großvater sich nicht als Jude gefühlt hat, er war bereits frühzeitig zum Protestantismus konvertiert. Erst durch die Nürnberger Rassengesetze wurde er zu einem Juden. Sein feines Gespür für Gerechtigkeit und diese große Verbundenheit zu seinem Land haben ihn schließlich gebrochen. Der Selbstmord 1938 war für ihn der letzte Ausweg. Ihm war klar geworden, dass er ins Lager kommen würde. Einige andere Mitglieder unserer Familie wurden später in Theresienstadt ermordet. Er wollte weder als Märtyrer noch als gebrochener Mensch sterben. In Chroniken schreibt er außerdem, dass er seiner Frau und seinen Kindern größeres Leid ersparen wollte.
Ihr Großvater hatte als Laborleiter in Uerdingen eine herausragende Stellung bei der I.G. Farben. Wie hat sich seine Situation nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 privat und beruflich verändert?
Das weiß ich nicht. Über seine wissenschaftliche und berufliche Situation haben wir nicht gesprochen. Auch der Name Ter Meer ist meiner Erinnerung nach in der Familie niemals gefallen. Es wäre für uns als Familie sehr spannend, durch die Arbeit der Stiftung hier in Zukunft mehr zu erfahren.
Kommen wir zu Ihrem Vater, Berthold Finkelstein.
Mein Vater war ein sehr warmherziger Mensch, sehr gebildet, er sprach mehrere Sprachen. Die Erlebnisse seiner Kindheit haben ihn natürlich sehr geprägt, auch er war traumatisiert, zudem hat er als Zwangsarbeiter im Labor der I.G. Farben in Uerdingen arbeiten müssen. Wie es ihm dort ergangen ist, darüber hat er wenig gesprochen. Nach dem Krieg hat er sich sehr intensiv der europäischen Verständigung gewidmet. Das war seine Lebensaufgabe. Diese Wertschätzung der Europäischen Gemeinschaft und die Bedeutung der Aussöhnung hat er an mich weitergegeben.
Warum darf die neue Stiftung den Namen Ihrer Familie tragen?
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie oder Antisemitismus sind leider nicht verschwunden, ganz im Gegenteil, in vielen Ländern nehmen sie sogar zu. Das Thema Ausgrenzung ist also aktueller denn je. Auch der Geschichtsrevisionismus, also der Wille, Geschichte bewusst umzudeuten oder vergessen zu machen, wächst. Ganz im Sinne meines Vaters trägt die Stiftung dazu bei, Toleranz und Aussöhnung zu fördern. Mein persönliches Engagement sehe ich als Fortführung des Erbes meines Vaters. Für mich ist das ein Anknüpfungspunkt an sein Leben.
Haben Ihre Familie und Sie lange überlegt, als die Anfrage von Bayer kam?
Nein, das haben wir sehr schnell entschieden. Es ist wichtig, sich für Freiheit und Toleranz einzusetzen, die Stiftung ist hierfür ein weiterer, ganz besonderer Beleg. Ich empfinde die Stiftung aber auch als große Chance für uns als Familie, denn sie bietet die Möglichkeit, viele weitere Dinge zu erfahren. Natürlich haben wir das geprüft, aber wir haben sehr schnell erkannt, wie ernst es Bayer ist und dass eine solche Stiftung das Richtige ist. Schicksale wie die von Hans und Berthold Finkelstein dürfen sich nicht wiederholen. Die Stiftung kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.